Freitag, 27. Februar 2009

Wo der Staat die Jugend zerstört….

Bei seinem Besuch in der Complexo do Alemão (1) erntete Präsident Lula großen Zuspruch der Bevölkerung. Er sagte, dass es die Schuld des Staates sei, wenn ein Jugendlicher zu einem Verbrecher wird (2). Auch ich kann dem brasilianischen Präsidenten nur zustimmen. Der Staat legt durch die Vernachlässigung seiner staatlichen Aufgaben den Grundstein für eine kriminelle Karriere der Jugendlichen. Diese kriminelle Karriere ist sehr gewaltvoll und kurz. Einen Einblick in das Leben der Jugendlichen im Drogenkrieg Rios gibt das Buch „Falcão – Meninos do Tráfico“ von MV Bill und Celso Athayde (3). Um die Brutalität dieses Krieges nur kurz anklingen zu lassen, soll uns die Tatsache genügen, dass nur einer der siebzehn Jugendlichen, über welche das Buch berichtet, die Veröffentlichung miterlebt hat, die anderen wurden erschossen. Das Buch war jedoch nicht der Grund für den Tod dieser Jugendlichen. Es war die alltägliche Banalität der Gewalt im Drogenkrieg von Rio de Janeiro.
Dieser Artikel widmet sich jedoch der Rolle des Staates und seiner Gewalt gegen diese Jugendliche. Die physische Gewalt, an der die Jugendlichen körperlich zugrunde gehen, seien es die Kugeln der Polizei oder eines gegnerischen Comandos (4), soll hier nicht behandelt werden. Es geht viel mehr um die strukturelle Gewalt des Staates gegen die Jugendlichen.
Während eines Besuchs in einem Jugenduntersuchungsgefängnis in Rio de Janeiro konnte ich diese, vor der Öffentlichkeit versteckte, aber doch reale Gewalt sehen. Ich hatte die Möglichkeit mit dem Gefängnisseelsorger einen Nachmittag dort zu verbringen. Einen Nachmittag, den ich nie vergessen werde.
Nachdem wir die Haupthalle betreten hatten, verging einige Zeit bis die Jugendlichen, welche hier auf ihre Verurteilung warten, aus ihren Zellen gelassen wurden. Man konnte nur die Umrisse der Jugendlichen durch die doppelt vergitterten Fenster sehen, jedoch konnte man sie deutlich hören. Einige riefen nach dem Seelsorger, doch dieser hatte kaum Zeit für jeden Einzelnen. Bei 200 Jugendlichen und drei Stunden Zeit, kann jeder selbst die wenigen Minuten errechnen, die dem Seelsorger für den Einzelnen verbleiben. Ich wartete die kurzen Gespräche ab. Eigentlich waren das keine richtigen Gespräche...
Während ich wartete, spielte sich eine unmenschliche Szene ab: Ein Wärter erschien am Eingang mit einem „Neuen“. Dieser Jugendliche war bereits uniformiert. Er trug die einheitliche Anstaltskleidung, welche lediglich aus einer kurzen Hose und einem T-Shirt besteht. Doch musste er sich noch der Prozedur des Haareschneidens unterziehen. Auf einem Stuhl in der Mitte der Halle wurden ihm die Haare abgeschoren, so dass alle anderen Jugendlichen ihn sehen konnten. Nun war er ein Inhaftierter, wie alle anderen: uniformiert, kahler Schädel, ohne Namen, nur noch eine Nummer! Ich traute meinen Ohren nicht, die Wärter riefen die Jugendlichen nicht bei ihren Namen, sondern tatsächlich mit einer Nummer. Nun wurde der Junge einquartiert: Es gab zwei Flügel, den des Comando Vermelho und den des Terceiro Comando. Im Untersuchungsgefängnis werden die Jugendlichen nach den verschiedenen kriminellen Organisationen eingeteilt. Selbst wenn ein Jugendlicher keiner angehört, wird er hier zwangsweise einer zugeteilt! Die Zellen weisen keine Anzeichen von irgendeiner persönlichen Identität auf. Das einzige, was hier eine Identität gibt, ist das Comando, welchem man nun angehört. In einem staatlichen Gefängnis werden die Jugendlichen Verbrecherorganisationen zugeteilt! Links: Comando Vermelho, rechts: Terceiro Comando.
Der Tag meines Besuches fiel mit dem Tag der heiligen Messe zusammen. Einmal im Monat dürfen die Jugendlichen an einer Messe teilnehmen bzw. zuschauen. Sie werden aus ihren Zellen geholt und müssen sich in Reihen dicht aneinander gedrängt auf den harten Betonboden setzen. Beim hinsetzen wickelten die Jungs ihre Shorts so um die Beine, dass sie sehr eng anliegt, denn zur Uniform der Anstalt gehört keine Unterhose. Also versuchten die Jugendlichen so, ein wenig ihre Würde aufrecht zu erhalten.
Die Messe begann, doch selbst vor Gott gab es keine Gleichheit! Vormittags war die Messe für das Terceiro Comando und Nachmittag für das Comando Vermelho. Auch wurden einige Bestandteile der Messe gekürzt: der Friedensgruß, bei welchem man seinem Nächsten den Frieden Gottes wünscht, wurde ausgelassen, weil hier die Jugendlichen körperlichen Kontakt zueinander haben könnten. Auch gibt es keine Kommunion, die Inhaftierten dürfen nur zuschauen und mitsingen.
Nach der Messe mussten die Jungs wieder in Reihen antreten, um wieder zurück in ihre Zellen gebracht zu werden. Die Hände müssen während der gesamten Zeit auf dem Rücken verschränkt sein. Acht Mann teilen sich eine kleine Zelle. Das ist jedoch nach Aussage des Seelsorgers ein Fortschritt, denn früher war das Gefängnis oft überfüllt. Acht Jugendliche in einer Zelle, egal ob einer ein Radio geklaut hat oder tatsächlich einem Comando angehört hat.
Natürlich muss man von der Unschuldigkeit der Jugendlichen ausgehen, weil es sich hierbei um die U-Haft handelt, die sich bis zu drei Monaten hinziehen kann. Mit dem einzigen Identitätsmerkmal von Seiten des Staates, welcher Verbrecherorganisation man angehört, auch wenn man nie Mitglied war. Spätestens im Gefängnis wird der Jugendliche eingeordnet und weiß nach seiner Entlassung für welches Comando er arbeiten kann.
Der Tonfall der Wärter gegenüber den Jugendlichen ist hart. Jeder Wärter lässt den Jugendlichen spüren, dass er ein gefährlicher Verbrecher ist. Es gibt auch Schikanen, welche die Jugendlichen über sich ergehen lassen müssen. Zum Beispiel musste eine Gruppe von ungefähr zehn Jugendlichen mit der Stirn an der Wand warten bis die restlichen Gefangenen nach der Messe wieder in den Zellen waren.
Nach drei Stunden ist die Zeit des Seelsorgens abgelaufen und wir müssen das Gefängnis verlassen. Doch auf dem Weg an den Zellenfenstern vorbei geschieht etwas, das mich die nächsten Nächte kaum zur Ruhe kommen ließ. Eine Stimme ruft meinen Namen und den Namen der Organisation, bei der ich meinen Anderen Dienst im Ausland abgeleistet habe, Casa do Menor. Ich kann den Jungen nicht erkennen und will zur Zelle gehen, um wenigstens das Gesicht zu sehen, doch der Wächter lässt mich nicht zu ihm, denn „die Zeit für die Seelsorger ist vorbei!“
Mein Besuch im Untersuchungsgefängnis wird die Situation sicherlich nicht ändern. Ich überlegte lange, wem die Verantwortlichkeit für eine solche unmenschliche Behandlung von Jugendlichen zugeschrieben werden kann. Doch am 5. Dezember 2008 las ich die Antwort in der Zeitung „Meio Hora“, welche die oben zitierte Aussage Lulas abdruckte: Es ist die Schuld des Staates, wenn ein Jugendlicher zum Verbrecher wird.

(1) Compelxo do Alemão: Sammelbegriff verschiedener Favelas in der Zona Norte von Rio de Janeiro
(2) Lula visita o Alemão. Meio Hora, 5. Dezembro de 2008, Ano 4, Nr.1.1156
(3) MV Bill, Celso Athayde: Falcão, Meninos do Tráfico. Rio de Janeiro: Objetiva, 2006
(4) Comando: Die rivalisierenden kriminellen Organisationen in Rio de Janeiro teilen sich in verschiedene Comandos ein. Die größten und bekanntesten sind: CV - Comando Vermelho, TC - Terceiro Comando und ADA – Amigos dos Amigos